Führen Schulschließungen zu einer „Lost Generation“?

Die Diskussion über Schulöffnung versus Schließung füllt die Medien, beschäftigt betroffene Eltern, Schülerinnen und Lehrkräfte genauso wie Politiker*innen.
Die Qualität der Diskussionsbeiträge ist dabei durchaus unterschiedlich und leider teilweise gerade dort besonders enttäuschend, wo man Kompetenz voraussetzt.

Selbst Wissenschaftler, von denen man eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit der Materie erwarten würde, zeigen Haltungen, die mehr von festem Glauben an was-auch-immer als von belastbarer wissenschaftlicher Arbeit geprägt sind. Ludger Wößmann vom ifo-Institut beispielsweise hat berechnet, dass die Schulausfälle bis Mitte Februar 2021 zu Schäden in Höhe von 3,3 Billionen Euro führen. Das entspricht etwa der Wirtschaftsleistung unseres Landes im gesamten Jahr 2020. Als Grundlage verwendet er Untersuchungen über die Auswirkungen von Lehrerstreiks in Ländern wie Belgien, Kanada und Argentinien. Die Gleichsetzung von „Schulschließung“ und „Unterrichtsausfällen“ wurde auch schon von einzelnen Kultusminister*innen vorgenommen, um den Präsenzunterricht durchzusetzen. Unter „Präsenzunterricht“ wird dabei ein Zustand verstanden, der den christlichen Vorstellungen vom Paradies recht nahekommt. Es gibt dort nur optimales Lernen für alle Schülerinnen und Schüler, keine Unterrichtsausfälle und es wird vor allem verhindert, dass sozial benachteiligte Kinder „abgehängt“ werden. Wenn wir nur die Schulen schnell wieder öffnen, so die Verheißung der Kultusminister*innen, wären alle Probleme sofort gelöst. Hosianna!

Diese frohe Botschaft wird dann zugespitzt auf das angebliche Dilemma „Gesundheit versus Bildung“, das anschließend ausführlich besprochen wird – zuletzt von der Kultusministerin in SH. Dabei hat bislang niemand schlüssig belegen können, dass sich beides gegenseitig überhaupt ausschließt. Wäre ja schade, wenn aus dem vermeintlichen Dilemma plötzlich ein durchaus lösbares Problem würde. Und nicht ungefährlich, denn wenn Probleme lösbar wären, könnte ja noch jemand von der KMK erwarten, dass sie diese Lösungen auch entwickelt und umsetzt.

Betrachtet man dagegen das Geschehen im Land, spricht mit Eltern, Schüler*innen, Lehrkräften und Schulleitungen, ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild, das in deutlichem Widerspruch zu vielen laut geführten medialen und politischen Diskussionen steht.

Schulschließung bedeutet nicht Unterrichtsausfall

Beginnen wir mit einer grundlegenden Feststellung: Von einer sehr überschaubaren Zahl von Ausnahmen abgesehen, findet Schulbildung weiterhin statt. Dass Fernunterricht angesichts des bis heute geringen Engagements der meisten Kultusminister*innen für digital unterstütztes Lernen in seiner Qualität recht unterschiedlich ausfällt, kann dabei nicht überraschen. Es bleibt überwiegend dem Engagement der Lehrkräfte und Schulen überlassen, wie intensiv und kompetent man sich mit den digitalen Möglichkeiten auseinandersetzt. Hinzu kommt, dass es mangels übergreifender Unterrichtskonzepte in der Fläche sehr unterschiedliche Ansätze gibt, Lernen mit digitalen Elementen zu gestalten. Das stellt Eltern und Schüler*innen durchaus vor Probleme.
Das oft große Engagement der Lehrer*innen übersetzt sich somit verständlicherweise noch nicht überall in perfektes Lehren, aber: unsere Kinder lernen weiterhin, vielleicht anders als gewohnt, aber Unterrichtsausfall ist in meiner Wahrnehmung die absolute Ausnahme. Gar nicht so selten ist der Lernerfolg sogar recht hoch, denn digitale Möglichkeiten können – richtig eingesetzt – Lernen erheblich fördern. Es gibt sogar Schüler*innen, die in diesem Umfeld besser lernen als im Präsenzunterricht.

Diskussionsbeiträge, die den heutigen Zustand als „Quasi-Unterrichtsausfall“ beschreiben, haben also mit der Wirklichkeit herzlich wenig zu tun.

Infrastrukturelle Probleme

Dagegen gibt es unbestreitbar Schülerinnen und Schüler, die mit den bestehenden Lernmethoden schlecht oder gar nicht erreicht werden.
Darunter sind einige, bei denen die vorhandene IT-Infrastruktur (Internet-Anschluss, ausreichende Leistungsfähigkeit und Anzahl von geeigneten Geräten) die Möglichkeiten für Fernunterricht beschränkt. Richtig problematisch wurde das übrigens, als die Vorgabe aus den Kultusministerien einen stundenplanmäßigen Unterricht vorschrieben. Mit asynchroner Kommunikation und Aufgaben-Verteilung (Messenger/Mails und LMS) war vorher das früher zumindest bei uns jeweils lösbar, aber mit synchronem Unterricht (z.B. Video-Konferenzen) wurden diese Einschränkungen zum Problem. Plötzlich konnten Kinder nicht mehr nacheinander lernen, sondern benötigten alle gleichzeitig Computer und möglichst einen eigenen Raum, um dem Videounterricht konzentriert folgen zu können. Das konnten und können viele Familien nicht ohne Weiteres bereitstellen
Video-Konferenzen funktionieren zudem im derzeitigen Schulalltag oft unbefriedigend, häufig können sich einige Schülerinnen und Schüler entweder gar nicht erst einwählen, oder durch Bild- und Tonprobleme dem Unterricht nur bedingt folgen. In diesem Ausmaß ist das übrigens eine Besonderheit in Deutschland. Unsere enge Auslegung des Datenschutzes verbietet Schulen die Nutzung der in der Wirtschaft und Schulen anderer europäischer Länder verwendeten professionellen Videokonferenzen wie Zoom, Webex, Teams, Skype etc., die erheblich zuverlässiger funktionieren und oft auch noch mehr Möglichkeiten bieten. Aber wir haben ja schon bei der Corona-App gesehen, dass in Deutschland Datenschutz wichtiger als Funktionsfähigkeit ist.

Fernunterricht schafft keine neuen, sondern verstärkt bestehende ungelöste Probleme

Kommen wir zu einem tatsächlich großen Problem: Schüler*innen aus bildungsfernem Umfeld. Deren Entkopplung vom Lernen wird aktuell gerne als Argument für eine rasche Öffnung der Schulen angeführt. In Wirklichkeit gibt es hierfür aber tiefe strukturelle Ursachen, völlig losgelöst von den aktuellen Schulschließungen. Es überrascht wenig, wenn mir viele Lehrerinnen und Lehrer berichten, es seien eigentlich keine neuen Fälle geschaffen worden, einige der erheblich gefährdeten Kinder hätten allerdings nun den Anschluss komplett verloren. Aus einer in Präsenzzeiten festgestellten Note 4 – oder 5 wurde nach der Schulschließung faktisch ein „Ungenügend“, das allerdings i.d.R. aufgrund der Bewertungsvorgaben aus den Ministerien nicht auf dem Zeugnis erscheinen wird. Nun dürfte es kaum ein erstrebenswertes Ziel sein, die betreffenden Kinder wieder auf die ursprüngliche vier minus zu „fördern“. Damit blieben ihnen nämlich weiterhin viele Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten verwehrt.

Wenn somit die Schulschließung nicht die Ursache der Probleme ist, werden diese mit Rückkehr zum Präsenzunterricht folglich auch nicht verschwinden. Dahingehende Prognosen sind völlig realitätsfern, sollen möglicherweise verdecken, dass wir in Deutschland ein sehr grundsätzliches Problem damit haben, Kinder aus bildungsfernem Umfeld zu fördern. Obwohl zahlreiche Studien schon lange belegen, dass Deutschland hier weniger leistet als viele andere Länder hat es noch keine substanziellen Initiativen zur Lösung gegeben.

Mit ihrer Forderung nach Rückkehr zum allgemeinen Präsenzunterricht unterstellen die Bildungspolitiker*innen außerdem, dass die betroffenen Schüler*innen nur dann gefördert werden können, wenn grundsätzlich alle Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule kommen. Nur so ist die Argumentation zu verstehen, die in der Zuspitzung auf „Gesundheit versus Bildung“ mündet. Es ist aber logisch nicht nachzuvollziehen, warum alle Kinder in die Schule gehen müssen, weil einige sonst nicht lernen. Das ist in etwa so zwingend wie ganze Ortschaften zum Arzt zu schicken, weil ein Einwohner Bauchschmerzen hat. Es wäre mehr als hilfreich, wenn die KMK sich endlich um brauchbare Förderungskonzepte für benachteiligte Kinder kümmern würde anstatt uns Lösungsvorschläge zu machen, die nicht einmal der einfachsten Prüfung auf Sinnhaftigkeit standhalten.
Aber auch jetzt schon sind vielerorts lokale Maßnahmen möglich, zumindest als „erster Schritt“: in einigen Schulen können Kinder, die keine Rückmeldungen zu den gestellten Aufgaben geben oder technisch nicht über die erforderliche Infrastruktur verfügen, in Präsenz in der Schule mit Schul-Geräten arbeiten. Hierfür mag es Limitierungen geben, wenn Schulen z.B. über keine schnelle Internet-Anbindung oder wenig / keine geeignete Hardware verfügen oder durch die Menge an notbetreuten Kindern schon an Kapazitätsgrenzen stoßen. Wo machbar, löst man so aber wenigstens schon mal ein paar Probleme.

Wenig überzeugend sind auch die bislang verkündeten Ideen zur Schließung von „während der Schulschließung entstandenen Lernlücken“. Ferien sind grundsätzlich mögliche Zeitfenster, um Rückstände aufzuholen. Aber wie soll dieser Förderunterricht nun konkret aussehen? Wer soll ihn durchführen? Lehrkräfte, die den Online-Unterricht schon seit Monaten nur gestalten können, indem sie auf jedes Wochenende verzichten? Und was soll inhaltlich eigentlich in welcher Weise gefördert werden? Es ist davon auszugehen, dass Lücken individuell unterschiedlich sind und in vielen Fällen auch Lerninhalte der Vorjahre einschließen. Mit allgemeiner Wiederholung von Themen, die während der Schulschließung auf dem Stundenplan standen, wird es jedenfalls nicht getan sein. Aber nicht einmal für diese einfachste Variante gäbe es im Moment einen praktikablen Vorschlag der Kultusministerien.

Es wäre höchste Zeit für neue Konzepte in unserer Bildungspolitik. Die Nutzung digitaler Möglichkeiten im Schulunterricht sind ein wesentliches Element darin, zumal wir in zahllosen Studien gezeigt haben, wie rückständig wir bei diesem Thema sind. Zudem besteht jetzt die unwiederbringliche Chance, das bei vielen Lehrkräften bestehende Momentum zur Integration solcher Techniken in den Unterricht zu verbessern.

Bei alldem, was ich in diesen Wochen von Bildungspolitikern lese, sehe und höre, schenkt man solchen Überlegungen im Kreise der KMK wohl weiterhin eher wenig Beachtung. Wahrscheinlich kehrt man baldmöglichst einfach zurück zum Präsenzunterricht, der ja bekanntermaßen auf direktem Weg ins Lernparadies führt. Hosianna!

Veröffentlicht von diggitall

Hochschul-Gastdozent für "Sales & eCommerce" und Aviation-Themen Unternehmensberater

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