„Die Schulen müssen offen bleiben!“ Diesen Glaubenssatz hört man von der überwiegenden Anzahl der Bildungspolitiker, die sich damit den Forderungen von Schüler-, Eltern- und Lehrerverbände z.B. auf Klassenteilung und Hybridunterricht entgegenstellen. Die Verbände verweisen auf Infektions- und damit Gefährdungslage. Über die Gefährdungslage werde ich nicht spekulieren, ich bin weder Virologe, noch überhaupt Mediziner. Aber die Aussagen aus der Bildungspolitik zum Thema Hybridunterricht haben leider meist wenig Substanz: recht wenig Rationales, aber umso mehr Mythologisches, unhaltbare Behauptungen und manchen Unsinn.
Natürlich ist erfolgreicher Unterricht mit digitaler Unterstützung kein Automatismus. Nicht alles Digitale ist automatisch gut. Lehrkräfte sind gefordert, sich mit den Möglichkeiten vertraut zu machen und Einsatzmöglichkeiten für ihren eigenen Unterricht zu beurteilen. Das hat sich gegenüber der analogen Zeit nicht grundsätzlich geändert, allerdings ist das Angebot digitaler Unterstützung unüberschaubar groß geworden.
Hätten sich die Kultusministerien seit März konzeptionell mit dem Einsatz digitaler Möglichkeiten befasst, wäre es heute wesentlich leichter für die Schulen, ordentliche „Blended Learning“-Konzepte (Verbund von analogem und digitalem Unterricht) umzusetzen und auch Hybrid- oder Wechselunterricht erfolgreich aufzusetzen. Leider vermissen wir weiterhin jeglichen konzeptionellen Ansatz jenseits der Lüftung von Klassenzimmern, selbst grundlegende Probleme sind nach einem Dreivierteljahr meist so ungelöst wie zu Beginn der Pandemie:
- Datenschutz und Urheberrecht: Die Kultusministerien haben bestenfalls mit Schulungen versucht, den Lehrkräften die betreffenden juristischen Inhalte zu vermitteln. Der Versuch, derart komplizierte Sachverhalte in die Schulen zu verlagern, ist leider völlig ungeeignet. Wie sollen diese denn beurteilen, ob und wie technische Maßnahmen die Datenschutzerfordernisse einhalten? Ob und wie Verlinkung von Online-Angeboten urheberrechtlich anders zu bewerten ist als Film- oder Anwendungskopien?
Diese Fragen sind zentral durch Fachleute zu beantworten, die Schulen brauchen White- oder zumindest Blacklists (Whitelist: Liste zulässiger Anwendungen // Blacklist: Liste untersagter Anwendungen) für mögliche Unterrichtsanwendungen.
Die Passivität der Bildungspolitiker hat vielerorts dazu geführt, dass Schulen und Lehrkräfte nur ein rechtlich einigermaßen abgesichertes Angebot digitalen Lernens anbieten, was den Lernerfolg leider oft maßgeblich beschränkt. In Berlin hat eine Grundschule nach der Drohung der Datenschutzbeauftragten, Bußgelder zu verhängen, jeglichen Digitalunterricht eingestellt und untersagt sogar, von privaten Telefonanschlüssen mit Eltern zu telefonieren, weil nicht klar ist, ob die Erfassung der Gesprächsdaten durch Provider und private Telefonanlagen vielleicht schon ein Problem darstellt - Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Insbesondere Grundschulen kennen die Problematik: Bilder von der Einschulung können mächtig Ärger auslösen, wenn darauf Kinder abgebildet sind, deren Eltern kein Foto zugelassen haben. Das Gleiche gilt nun auch für den Fall, dass Unterricht aus dem Klassenraum über Video übertragen wird. Wenn Schülerinnen und Schüler im Bild oder auch nur als Ton übertragen werden, öffnet das Tür und Tor für juristische Auseinandersetzungen mit Eltern, die das nicht wollen. Natürlich kann man deren Zustimmung einholen, aber auch dazu gibt es schon Aussagen von Juristen: wenn Eltern sich bei der Zustimmung unter Druck gesetzt fühlen, könne diese unwirksam sein. Und in diesem Minenfeld sollen nun Schulen und Lehrkräfte Videounterricht anbieten?
Für Studierende ist diese Frage übrigens oft unverständlich, denn an zahlreichen Universitäten ist es üblich, eine Videoübertragung einer Vorlesung anzubieten. Hier reicht allerdings die Zustimmung der Studierenden, aber die sind ja auch über 18 - Unterrichtskonzepte: Zahlreiche Untersuchungen, zuletzt auch im Rahmen einer Sendung vom Wissenschaftler Harald Lesch erläutert, belegen, dass Lernen besonders gut funktioniert, wenn Menschen Dinge physisch „begreifen“, also mit mehreren Sinnen erfassen. Wer das nun als alleiniges Problem des Digitalunterrichts versteht, liegt schief: der klassische vortragsbasierte Unterricht ist letztlich auch nichts anderes, in der Darstellung von Lerninhalten sogar noch weniger erfolgsträchtig. Guter Unterricht muss also versuchen, mehr Raum zum „Begreifen“ zu schaffen und dabei auch die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten berücksichtigen. Wir haben dabei sehr gute Erfahrungen mit „Flipped Classroom“ gemacht, Wissensvermittlung auf digitalem Wege (Hausaufgaben, Filme, etc.) und anschließend die praktische Anwendung im Präsenzunterricht.
In Fächern wie Geschichte und IT hat das nach kurzer Eingewöhnungszeit sehr gut funktioniert. Wo das digital unterstützte Lernen in einer größeren Anzahl von Fächern genutzt wurde, konnten sogar in eigentlich lernschwachen Klassen überdurchschnittliche Prüfungsergebnisse erzielt werden. Als etwas schwieriger hat sich „Flipped Classroom“ in Deutsch herausgestellt, insbesondere in den älteren Klassen. Hier haben wir deshalb andere Ansätze entwickelt, bei denen Aufsätze weiterhin vorwiegend im Präsenzunterricht vorgestellt und besprochen werden, aber Teilbereiche (Wortschatz / Formulierung, Strukturierung und Merkmale bestimmter Texte) digital unterstützt geübt werden. Für die MINT-Fächer liegen gleichermaßen erfolgreiche Beispiele für Flipped Classroom und Blended Learning vor - Unterschiedliche technische Voraussetzungen: zurecht wird häufig beklagt, dass wir in etlichen Regionen des Landes dürftige Internet-Anbindung sehen. Auch die Verfügbarkeit von Geräten (PC / Notebook / Tablets) droht, insbesondere sozial schwächere Kinder bildungsseitig noch stärker zu benachteiligen.
Nicht alle diese Probleme lassen sich kurzfristig lösen und wer das Trauerspiel um Digitalpakt und Lehrer-Laptops verfolgt, mag den Glauben an schnelles Handeln der Politik ohnehin verwerfen.
Aber jetzt gar nichts zu tun, weil es Probleme in einigen Bereichen gibt, ist fahrlässig. Und Digitalisierung bietet eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, was wir auch in sehr unterschiedlichen Ansätzen von Schulen sehen: manche favorisieren Video-Unterricht, andere eigene Lehrplattformen wie Moodle/Mebis und andere. Selbst, wo beides nicht zur Verfügung steht, können webbasierte Angebote genutzt werden (H5P, Learning Apps, Orthografietrainer etc.). Die verbreitete Verteilung von ausgedruckten bzw. pdf-Arbeitsblättern ist als Notlösung auch möglich, führt aber meist zu geringeren Lernerfolgen.
Wo es Probleme bei der Internet-Geschwindigkeit oder der nicht ausreichenden Verfügbarkeit von Geräten gab, haben wir parallele Bereitstellung über unterschiedliche Wege ausprobiert und damit in den meisten Fällen alle Schülerinnen und Schüler erreicht.
Um keine Zeit dafür zu vergeuden, dass jede Lehrkraft und jede Schule die gleichen Ideen, Methoden und Anwendungen ausprobiert, müssen Kultusministerien hier für praktische Aufgabenteilung und überregionalen Informationsaustausch sorgen.
Mit durchdachten Konzepten lässt sich also Wissen mit digitaler Unterstützung durchaus erfolgreich vermitteln. Nachteile von hybridem zu ausschließlich Präsenzunterricht gab es nur in sehr wenigen Ausnahmen und selbst da waren sie nicht unüberwindbar.
Zunehmend kritischere Urteile bekomme ich dagegen zum aktuellen Präsenzunterricht an den Schulen. Steigende Ausfallzahlen von Lehrkräften führen zu überdurchschnittlichen Vertretungsstunden. Die Inhalte solcher Vertretungsstunden haben – das ist sicherlich keine neue Entwicklung – meist geringen oder gar keinen Lerneffekt. Daran ändern auch die wiederkehrenden Appelle der Schulbehörden und Schulleiter*innen kaum etwas.
In Sekundarstufe 2 – Jahrgangsstufen höre ich derzeit immer öfter, dass nicht einmal Vertretungen erscheinen. Bestenfalls gibt es dann Anweisungen für irgendeine eher willkürliche und nie überprüfte Beschäftigung, manchmal nicht einmal das.
Wie groß ist wohl der Lerneffekt solchen Präsenzunterrichtes?
Offene Schulen verkommen offenbar immer mehr zu Beaufsichtigungs-Institutionen für Kinder. Man mag das für die unteren Klassen und insbesondere Grundschulen noch akzeptieren, aber keinesfalls für die älteren Schülerinnen und Schüler.
Auftrag der Schulen ist die Vermittlung von Bildung und darauf muss das Augenmerk der Bildungspolitik liegen!