Chronik eines angekündigten Flops

Wie digitaler Unterricht durch Luftnummern ersetzt wird

„Wie sollte das auch funktionieren?“

Herbert war ganz offensichtlich genervt. So viel konnte ich erkennen, aber seine Frage ließ sich trotzdem nicht ohne Weiteres beantworten. Ich wusste schlichtweg nicht, worüber er sprach.

„Wir haben in dieser Woche meine Klasse in Quarantäne schicken müssen, weil es eine Corona-Infektion gab“, erklärte er mir auf meine entsprechende Frage, „und ich habe tagelang für nichts anderes mehr Zeit gefunden, als die Klasse und ihre Eltern zu informieren, wie es nun weiter geht.“

Es blieb zwar immer noch etwas im Dunst, aber nun wusste ich wenigstens ungefähr, über was er sprach. Herbert ist einer meiner ältesten und besten Freunde. Anders als die anderen unserer Schul-Clique hatte er sich entschieden, auf Lehramt zu studieren. Englisch und Geschichte. Seit über zwanzig Jahren unterrichtet er nun an einer nahegelegenen Schule und ist dort als engagierter und kompetenter Lehrer recht beliebt.

„Macht das nicht normalerweise die Schulleitung?“, fragte ich.

„Schon, aber die war mehr Teil des Problems als Teil der Lösung“. Er zog eine überzeugend verzweifelte Miene. „Die Anordnung des Gesundheitsamtes kam am späten Nachmittag und die Quarantäne sollte schon ab dem nächsten Morgen gelten. Also hat die Schulleitung am Abend schnell eine Nachricht rausgehauen und dabei Regelungen verkündet, die mit niemandem abgestimmt waren, vor allem aber nicht auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft waren.“

„Aber Quarantäne-Regelungen gibt es doch schon seit Monaten, man hätte sich doch auf einen solchen Fall schon lange vorbereiten können“, erwiderte ich, „dann hätte man jetzt die Nachricht und alle Regelungen nur aus der Schublade ziehen müssen.“

„Da war ja keine Zeit, denn Kultusministerien, Schulbehörden und Schulen haben nur über Hygienekonzepte diskutiert. Mit Lüften könne man ja leicht sicherstellen, dass es gar nicht erst zu Quarantäne oder gar Schulschließungen kommt“, verwarf er meinen Einwand.

„Aber Infektionen müssen ja gar nicht in der Schule geschehen, wenn sich jemand privat ansteckt, wird doch trotzdem Quarantäne für die betreffende Klasse verhängt“, warf ich ein, „also musste man doch erwarten, dass jederzeit Fernunterricht benötigt wird …“

Herbert lachte auf. „Hat aber keiner erwartet. Wenn man mehr über Windows und weniger über Fenster nachgedacht hätte, gäbe es nun vielleicht so etwas wie ein Konzept für digitalen Unterricht. Ist aber nicht passiert. Wir sind nicht besser vorbereitet auf Fernunterricht als vor einem halben Jahr.“

Ich runzelte die Stirn. Schließlich hatte ich ihm, dem ausgeprägten Digital-Skeptiker in der ersten Phase der Schulschließung, in vielen Sessions die Welt der neuen Medien und Möglichkeiten versucht näherzubringen. Er war nun sicherlich noch kein Nerd, konnte aber seine Ideen recht gut als unterschiedliche Aufgabenstellungen in der Lernplattform Moodle übertragen. Auch die digitale Kommunikation hatte er sich mittlerweile zu eigen gemacht. Gerade er war aus meiner Sicht ein Beispiel für gelungene Migration in die digitale Welt.

Er bemerkte meinen Blick: „Ja, einzelne wie ich vielleicht schon, aber als Schule sind wir nicht viel weiter als damals. Die Schulleitung kennt unsere Lernplattform nicht wirklich, nicht mal unseren Messenger oder sonst ein digitales Medium. Man glaubt alles, was irgendwer halbwegs überzeugt darüber behauptet, und dann wird ohne große Diskussion entschieden. Es bleibt reines Glücksspiel, ob es letztlich halbwegs funktioniert, leider funktioniert es in vielen Fällen überhaupt nicht.“

„Wie, obwohl schon seit Monaten Fernunterricht droht, hat sich bei euch niemand darauf vorbereitet?“, fragte ich einigermaßen konsterniert.

„Ja, das ist leider so. Einige haben ein paar Arbeitsblätter in die Lernplattform geladen, was nicht wirklich digitaler Unterricht ist. Die Kreativeren haben ein paar LearningApps oder LearningSnacks verlinkt, und die Halbprofis sogar YouTube-Filme. Um in die Links aufgenommen zu werden, hat es meist gereicht, wenn ein Schlüsselwort aus dem Lehrplan in der betreffenden Beschreibung der Anwendung vorkam. Vorheriges Testen, Diskussion über die Eignung solcher Angebote, erst Recht ein einigermaßen durchdachtes Fernunterrichtskonzept ist Fehlanzeige …“

Ich verstand seine Frustration nun besser. „Also: ‚All quiet on the digital front‘?“, fragte ich.

„Wenn es nur das wäre. Aber vor lauter Fensterln hat man nicht einmal die Zeit gefunden, wie und was man im Falle eines Falles kommuniziert. Als das Gesundheitsamt die Quarantäne meiner Klasse verkündet hatte, wurde die Schule völlig auf dem falschen Fuß erwischt. Es gab kein Konzept, wie nun der Fernunterricht ablaufen sollte. Man hat angekündigt, dass die Aufgaben gemäß Stundenplan zur Verfügung gestellt werden, und dass die Aufgaben je nach Gusto über Lehrplattform oder Messenger gestellt werden. Die Schulleitung verkündete vor allem ‚Video-Unterricht‘, obwohl nicht mehr als eine Gruppe bestehend aus 6 Schülern plus Lehrkraft unser Video-Tool gleichzeitig nutzen kann. Außerdem hat weder die Klasse noch irgendeiner der Lehrkräfte bislang eine Einweisung erhalten. Als ich das entsprechend hinterfragt habe, hat die Schulleitung den Video-Unterricht wieder zurückgezogen“

„Und wo war das Problem?“, fragte ich.

Herbert verdrehte die Augen. „Man hat keine Änderung und vor allem keine Details kommuniziert. Ich habe versucht, die Lücke zu schließen, habe Klasse und Eltern informiert und dann bekam ich natürlich die Fragen. Wie nun der stundenplanmäßige Unterricht aussehen solle, warum man die Aufgaben nicht nur in der Lehrplattform gestellt würden, weil ja die entsprechende Funktionalität im Messenger noch gar nicht vertraut sei und wie denn nun der – tatsächlich ja abgesagte – Video-Unterricht funktionieren solle. Auf meine Nachfragen bei der Schulleitung habe ich dann gelernt, dass sich niemand irgendwelche Gedanken über Details gemacht hatte.“

„Hat es denn dann trotzdem geklappt?“, fragte ich.

„Es gab keine Schwerverletzten. Aber unser Messenger hatte technische Probleme, so dass nicht alle sich einwählen konnten. Dafür wurden einige Eltern mit recht uninteressanten Nachrichten der Klasse überschwemmt, die eigentlich nur an die Mitschüler gerichtet waren. Niemand hatte sich vorher damit befasst, wie man mit dem gerade vier Wochen zuvor eingeführten Messenger in solch einer Umgebung arbeitet.“

„Learning by doing?“, grinste ich.

„Ja, und weil das so ein tolles Konzept ist, macht man das zum Standard. Soll halt jeder ausprobieren, ob und wie es geht, aber die Erkenntnisse dann für sich behalten. An Review und Erfahrungsaustausch ist offenbar niemand wirklich interessiert. Wir haben nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein Fernunterrichtskonzept oder eine Vorstellung, wie hybrider Unterricht funktionieren könnte. Wenn es zu länger andauernder Klassenteilung oder gar Schulschließungen kommt, wird das für viele Schülerinnen und Schüler zur Katastrophe.“ Herberts Gesichtsausdruck war reichlich konsterniert.

„Wir sehen ja gerade heftig steigende Infektionszahlen, also auch zunehmende Gefahr, dass das Virus in die Schulen kommt“, sagte ich, und schob eine Frage hinterher: „Was macht ihr denn nun vor diesem Hintergrund?“

„Lüften“, sagte Herbert, „und weil wir überraschenderweise in diesem Jahr mit Winter und sinkenden Temperaturen rechnen müssen, die Klassen auffordern, Jacken, Schals und Handschuhe im Unterricht anzubehalten. Aber nur mündlich, denn wir trauen dem Messenger nicht.“

Die genannten Beispiele sind real passiert, wenngleich auch nicht unbedingt – wie hier beschrieben – alle an der gleichen Schule. Sie sind aber recht typisch für das, was mir von den Lehrkräften meines Freundes- und Bekanntenkreises beschrieben wird

Veröffentlicht von diggitall

Hochschul-Gastdozent für "Sales & eCommerce" und Aviation-Themen Unternehmensberater

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